Eigentlich lehne ich es ab, bei Musik, die analphabetisch zustandekommt, von Kompositionen zu sprechen. Ein Komponist SCHREIBT Musik. Basta.
Mir ist allerdings bewußt, daß dieser Standpunkt, spätestens seit es MIDI gibt, einen verschrobenen Purismus
darstellt, und ich muß gestehen, daß ich selbst mehrfach dagegen verstoßen habe. Der Grund kann reine Experimentierfreude sein. Oder, besonders Ende der 1980er Jahre, die schlichte Freude
darüber, daß es damals auch für Privatleute und Durchschnittsverdiener möglich geworden war, einen Atari-Computer mit entsprechender Software („Notator“), dazu als „Masterkeyboard“ ein MIDI-fähiges Digitalpiano und als
weitere Hardware diverse Soundmodule anzuschaffen, bei denen der Realismus der Instrumentalklänge (wie bei den heutigen VSTs) dann allerdings sehr vom Preis abhing.
Ich selbst habe mir seinerzeit neben einigen preisgünstigen Soundmodulen den für damalige Verhältnisse hervorragenden und entsprechend teuren „Proteus 2“ von Emu-Systems gegönnt. Da ich aber
längst keinen Atari mehr besitze, verstauben nun in meinem Keller hunderte Disketten mit teils improvisierter, teils notierter Musik (denn auch das war mit der Atari-Software, die darum „Notator“
hieß, möglich).
Ich möchte glauben, daß das meiste keinen allzu großen Verlust für die Menschheit bedeutet.
Zu den als Audiomaterial noch vorhandenen Dingen zählen zwei Bühnenmusiken, die ich in den 1990ern für den Puppenspieler Dieter Baum und sein Figurentheater „Sack un‘ Pack“ fabriziert habe. Mit
einem der Stücke für Kinder im Vorschulalter (Titel „Pirat(t)en-Pit auf Kaperfahrt“) scheint Dieter Baum immer noch durch die Gegend zu touren. Ob er auch das andere mit meiner Musik (Titel
„Teemann, Schneemann, Owehmann“ o.ä.) noch zum besten gibt, weiß ich nicht. Umgekehrt wäre es mir persönlich lieber, denn ich finde:
Den Musiken zum Piratenstück merkt man den Zeitdruck und die Halbherzigkeit des „Komponisten“ weitaus deutlicher an als den drei noch vorhandenen Nummern aus dem Schneemann-Stück.
Große Kunstwerke sind die einen so wenig wie die anderen. Und doch möchte ich die Schneemann-Stücke gegen die eigene Verachtung in Schutz nehmen.
Dafür daß ich sie ausnahmsweise schriftlos kreiert, also Spur für Spur „in den Atari improvisiert“ habe, kommen sie mir nicht uninspiriert und durchaus liebevoll gestaltet vor.
Das erste Stück heißt „Stracciatella Rag“. Ich meine mich vage zu erinnern, daß Stracciatella der Name der vom Puppenspieler verkörperten Erzählerfigur war. Der Ragtime hätte dann die Funktion
einer Titelmelodie, Ouverture etc. gehabt.
Der „Seiltanz“ stellt, wenn ich mich recht erinnere, dar, wie der Schneemann mit Herzklopfen und Angst vor der eigenen Courage auf einem Hochseil balanciert. Am Anfang stehen die Zirkusatmosphäre
(Trommelwirbel) und das Erschrecken nach dem ersten Schritt: Der Schneemann rettet sich zurück aufs Podest (Xylophon), sein Herz pocht (Pauken), dann versucht er’s erneut, stellt fest, daß es
geht, daß die Beine nicht mehr zittern, und die Musik wandelt sich zu einem wohlig fließenden Tango. Am Ende erklingt ein Trompetensolo, das gut geeignet ist, meine These zu belegen, daß, wer
tonal improvisiert oder komponiert, nie sicher sein kann, daß wirklich Eigenes dabei herauskommt. Die Passage enthält eine melodische Wendung, die an „When I’m sixty four“ von den Beatles
erinnert. Mir ist das aufgefallen, als es passiert war. Ich behaupte: So etwas passiert auch und noch viel häufiger, OHNE daß es einem bewußt wird. Auch Paul McCartney hat vermutlich nur unbewußt
typische Muster der Popularmusik weitergereicht, wie man sie unweigerlich aufschnappt, wenn man nicht gerade unter den Taliban oder in einer Gegend ohne elektrischen Strom sozialisiert
wird.
Man kann über hundert Jahre nach der Erfindung des Phonographen entweder traditionell oder originell komponieren, aber nicht beides zugleich.
Der Schlittschuhwalzer folgt, glaube ich, einem umgekehrten programmatischen Ablauf:
Der Schneemann versucht sich im Schlittschuhlaufen, begibt sich aufs Eis, ohne daran zu denken, daß es einbrechen könnte, was es dann aber, glaube ich, tut. Daher befinden sich die musikalischen
Irritationen (abwärts geführte Ganztonleiter, Taktwechsel, Trompeten mit Dämpfer etc.) hier am Schluß.
Mehr noch als die vermeintliche Beatles-Anmutung am Ende der Seiltanznummer demonstriert der Schlittschuhwalzer, daß die Annahme, etwas traditionell und dennoch originell komponiert zu haben, die
besten Chancen hat, sich als Irrtum zu erweisen. Es ist schwer zu glauben und doch wahr: Ich hatte zwar bei der Entstehung dieses Walzers in der angedeuteten Entstehungsweise (als
Mehrspur-Improvisation am Atari) die Vorstellung, etwas in der Art eines vielleicht tschaikowskyschen Ballettwalzers zu kreieren, wobei der Name Tschaikowsky eher für die vage Assoziation
des Russischen, will sagen: Winterlichen zuständig war - und nicht sosehr für konkrete melodische Wendungen oder Stilelemente. Ich bitte einfach, mir zu glauben, daß mir zwar der Namen Waldteufel
als der eines Walzerkomponisten irgendwann untergekommen war, ich aber weder seinen Schlittschuhwalzer („Les patineurs“) kannte, noch auch nur wußte, daß es ihn gibt.
Trotzdem klingt der Anfang meines Schlittschuhwalzers wie Diebesgut aus demjenigen von Waldteufel.
Das beweist aber nicht, daß ich geklaut hätte, sondern: daß jede Komposition mit tradierten Mitteln und mit den Stilelementen bestimmter Genres wie eine Schiffsreise ist, bei der man sich wie
Columbus oder Robinson Crusoe fühlt, bis man merkt (WENN man es denn bemerkt): die Insel, auf der man gelandet ist, in Wahrheit längst entdecktes und dicht bevölkertes Festland.
Anders gesagt: Man begibt sich auf Glatteis, in Rutschgefahr. Daher (dem Doppelsinn zuliebe) heißt der Walzer heute „Risque de verglas“.
Ich habe angefangen, die Stücke zu transkribieren, also nachträglich aus analphabetischer Musik Partituren zu machen. Der Walzer „risque de verglas“ liegt nun auf diese Weise auch geschrieben
vor. Danach bin ich daran gegangen, auch den Stracciatella-Rag zu transkribieren, dies aber vorerst nicht in der Instrumentierung für Posaune, Glockenspiel, Schlagzeug und Klavier, sondern als
reines Klavierstück. Auch mit der Transkription des „Seiltanz“ habe ich begonnen (Besetzung: Flöten, Oboe, Trompete, Posaune, Pauken, Trommel, Becken, Glockenspiel, Xylophon, Harfe und
Streicher).
Mir ist dabei klargeworden: Das Bemühen, das Original genau nachzubilden, ist eine reine Fleißarbeit.
Ich spüre dabei seltsamerweise nicht die Versuchung, das improvisierte Original durch die Sorgfalt des Schreibens zu veredeln und zu verdichten, sondern ich stelle fest, daß meine Transkription
hinter dem damals spontan Hingeworfenen im Blick auf die Subtilität zurückbleibt!
Meine Vorbehalte gegenüber improvisierter Musik werden durch diese Erfahrung auf eine für mich selbst sehr irritierende Probe gestellt. Ich war immer der Meinung, gerade im Zeitalter der
technisch ermöglichten Reproduktion und Überflutung durch Musik habe die Menschheit weder einen Grund noch das Recht, auf die Vorteile des überlegten Schreibens gegenüber dem Improvisieren zu
verzichten. Sollte sich dieser Standpunkt als falsch herausstellen?
Wie auch immer: Ich habe beschlossen, die Puppenspielmusiken hier in Gestalt der Audiodateien hochzuladen, welche die Atari-Ära überdauert haben. Die Klänge entstammen dabei in der Hauptsache dem
erwähnten „Proteus 2“. Ich werde zwar auch, wie beim Walzer „risque de verglas“, die Resultate meiner späten Transkription hier einstellen, so ich sie denn fertigstelle. Diese werden aber nicht
das Material von damals ersetzen, sondern ergänzen, denn die Übertragung in Notenschrift weicht teils gewollt, teils ungewollt von der Vorlage ab, und ich finde: Es soll möglich bleiben, die
Originale von 1996 mit den Transkriptionen zu vergleichen. Vor allem aber soll möglich sein, die Transkriptionen neu und besser in Angriff zu nehmen.
Sollte jemand dazu Lust haben: Ich bitte darum !