Happiness

 

I. Entstehung

Seine Existenz und den Titel "Happiness" verdankt mein im Mai 2018 komponiertes Orchesterstück dem gleichnamigen Zeichentrickfilm von Steve Cutts. Diesen Film, obwohl bereits mit Geräuscheffekten und Musik von Bizet und Grieg unterlegt, galt es im Rahmen eines Kompositionswettbewerbs neu zu vertonen. Die Habanera aus Carmen und die Morgenstimmung aus Peer Gynt in allen Ehren, aber ich werde das Gefühl nicht los, daß die Nutzung dieser beiden berühmten Klassik-Highlights ursprünglich nicht für die Ewigkeit, sondern provisorisch als sogenannter "temp track" gedacht war. Aber wie dem auch sei – mittlerweile sind sie als offizieller Soundtrack inauguriert und werden das wohl auch bleiben, ganz gleich wie zahlreich und maßgeschneidert die vielen Orchesterwerke sein mögen, die nun im Rahmen des Wettbewerbs komponiert wurden. Als Teilnehmer hatte man exklusiven Zugang zu einer Spezialversion des Films ohne die Musik, aber mit den Geräuschen (quiekenden Ratten, Straßenlärm, Wind und Donner etc.) weil diese laut Reglement in die Neuvertonung integriert werden sollten.

304 Komponisten aus 44 Ländern nahmen teil. Abgabetermin für die Partitur (und weitere Dokumente, darunter ein möglichst realistisch klingendes "Mockup") war der 1.Juni 2018.

Bis zum 6.Juli sollte dann eine fünfköpfige Jury die fünf besten Einsendungen bzw. Komponisten nominieren, denen die Ehre zuteil wird, am 4.Oktober durch das Zürcher Tonhalle-Orchester unter Leitung von Frank Strobel uraufgeführt zu werden und zu erleben, wie einer unter ihnen als Sieger den Preis, das mit 10.000 CHF dotierte "Goldene Auge" mit nach Hause nimmt.

Die Jury wurde letztlich nur vierköpfig und stand erst am 19.Juni fest, hatte danach also noch ganze 17 Tage, um 304 (!) Orchesterkompositionen zu begutachten.

Ich habe mich, so gut ich das vermochte, innerlich darauf eingestellt, nicht unter den Top Five zu landen, denen dieses hartumkämpfte Glück – ob nun als "Happi-" oder "Luckiness" – würde beschieden sein. Wenn man dann aber die Namen der fünf glücklichen Finalisten schwarz auf weiß liest und der eigene nicht dabei ist, tröstet es wenig, daß es 298 nicht besser ergangen ist. Ob ich unter seriösen und vertrauenswürdigen Bedingungen eine Chance gehabt hätte, bleibt reine Spekulation, denn die Bedingungen waren weder seriös noch vertrauenswürdig. 

Ich stehe dazu, die Komposition trotz urheberrechtlicher Bedenken zusammen mit den geschützten Inhalten (Steve Cutts' Film und dessen Geräuscheffekten) ins Netz gestellt zu haben.

Die Musik ist so eng mit dem Film verwoben, daß es schmerzlich für mich wäre, sie einmal  aus rein juristischen Gründen aus ihrem Kontext reißen zu sollen. 

Doch auch, wenn das Auge mithört, dürften einige der komplexeren Sinnzusammen-hänge der Komposition verborgen bleiben. Sie kommen nur ans Licht, wenn sie ich aus dem Dunkel hole. Zwar gehe ich davon aus, daß so gut wie niemand außer mir etwas davon wissen WILL, aber umso mehr gilt es zu beachten, daß niemand außer mir etwas davon wissen KANN. Grund genug, einmal – an der storyline des Films entlang – die Musik zu erläutern, tunlichst so grob wie möglich, aber so detailiert wie nötig, um das "Insiderwissen" nicht dermaleinst mit in die Grube zu nehmen.

 

II.Analyse

In Steve Cutts' satirischer Filmparabel werden die modernen Großstadtmenschen als Ratten dargestellt. Zunächst hüpft eine ins Bild, dann sind es mehrere, und bald strömt eine gesichtslose Masse zur U-Bahnstation, um sich in überfüllte Züge zu quetschen, die nach "Nowhere" fahren. Ich fand es naheliegend, diesen Beginn als eine Art Fugato zu vertonen, dessen Thema den roten Faden des ganzen Stücks bildet. Insgesamt dürfte meine Musik zu "Happiness" unterm Strich einen ausgesprochen traditionellen (tonalen) Eindruck machen. Dem aufmerksamen Hörer wird zwar nicht entgehen, daß es im ersten Drittel des Stücks, bevor zunehmend Dur und Moll und easy-listing-Anklänge (Drehorgel, Jazz, Wienerisches, Ragtime etc.) buchstäblich den Ton angeben, irgendwie "moderner" zugeht. Er dürfte dennoch erstaunt sein, daß dieses Thema eine Zwölftonreihe ist, dieselbe übrigens, die ich z.B. auch in der Lucanus Projektion und im Zyklus für Streichquartett verwendet habe.

Abb. 1
Abb. 1

Sie ist also gewissermaßen so etwas wie mein Markenzeichen. Allerdings verwende ich sie hier erstmals nicht oder allenfalls im ersten Drittel so, wie es sich für eine Zwölftonkomposition von Schönbergs Gnaden gehören würde, nicht einmal wie eine von meinen eigenen Gnaden, dennoch ist es auch hier aufschlußreich, auf die Besonderheiten dieser Tonfolge hinzuweisen. Nur am Rande sei erwähnt, daß es eine sog. Allintervallreihe ist:

So, wie sie z.B. in Takt 5 in den ersten Geigen erklingt, enthält sie alle elf möglichen Tonabstände von der kleinen Sekunde ("1") bis hinauf zur großen Septime ("11"): 

Abb. 2
Abb. 2

Bedeutsamer ist aber ihre auch andernorts bereits näher erklärte Symmetrie.

Diese erkennt man übrigens auch am vorstehenden Beispiel daran, daß die einander gegenüber  liegenden Zahlen (2 + 10, 1 +11, 5 + 7 etc. ) stets die Summe 12 ergeben. Spielt man die Reihe als Krebs, also rückwärts, ist das Ergebnis keine eigenständige, Neues generierende Tonfolge, sondern eine, die mit der ursprünglichen (der sog. Grundgestalt oder recte-Form) identisch wird, wenn man eine von beiden um eine halbe Oktave (= 6 Halbtonschritte = Tritonus = übermäßige Quarte/verminderte Quinte) gleichgültig, ob nach oben oder unten, transponiert:

 

Krebs oder Transposition der Grundgestalt ? Nicht entscheidbar !
Krebs oder Transposition der Grundgestalt ? Nicht entscheidbar !
Abb. 3
Abb. 3

Eine der wenigen Entdeckungen, die ich mit einem gewissen Stolz für mich reklamiere, ist eine Gesetzmäßigkeit, die auf alle in der gezeigten Weise symmetrischen ("krebsgleichen") Zwölftonreihen dieser Welt zutrifft: Ändert ("permutiert") man die Reihenfolge ihrer Töne, indem man zuerst die ungeraden (also Nr. 1, 3, 5...11) und dann die geraden (also Nr. 2, 4, 6...12) aufeinanderfolgen läßt, ergibt sich notwendig wieder eine symmetrische Reihe,

Abb. 4
Abb. 4

und das geht so fort, bis nach zehn Permutationen wieder die Ausgangsreihenfolge erreicht ist. Das ist auch das Geheimnis des kreisförmigen Gebildes, welches die Seite

Abb. 5
Abb. 5

"Kompositionen" dieser Website ziert und im Zusammenhang u.a. mit dem Zyklus für Streichquartett ebenfalls erläutert wird. In dieser kurzen Filmmusik, in der die Zwölftonreihe ohnehin nicht oder allenfalls zu Beginn die Bedeutung und regelnde Kraft hat, die ihr in echter Dodekaphonie zukäme, habe ich von dem Verfahren der Permutation allerdings nur einmal Gebrauch gemacht. Immerhin: in Takt 9 - 15 erklingt ein paarmal (als Grundgestalt und Krebs) in der Flöte die erste Permutation.

Abb. 6
Abb. 6

Ich habe versprochen, mich auf die verborgenen Dinge zu konzentrieren, die man nicht ohne Weiteres hört. Dennoch sei wenigstens erwähnt, daß wie überall in diesem Stück die Musik auch tonmalerisch oder symbolisch auf die dargestellte Handlung Bezug nimmt. Tonmalerisch (als hektisches Getippel der Ratten) ist natürlich das Staccato der Tonrepetitionen, das raschelnde Sul-ponticello-Spiel der Violinen und die "doppelzüngige" Trompete mit Dämpfer, ist die hohe Lage der Pikkoloflöten und Streicherflageoletts zur Darstellung der mit unangenehmem Quietschen nahenden U-Bahn. Aber auch die Harmonik, besser gesagt der Grad der Tonalität bzw. Atonalität hat schon hier ihre Symbolik. Die Reihe selbst enthält (typisch für symmetrische) bereits zwei traditionelle Dreiklänge in der Mitte, und zwar C-Dur und Fis-Dur. Simultan (übereinander geschichtet) ergeben sie z.T. Klänge wie beim bitonalen Strawinsky der ballets russes (Petrouchka und Sacre). Überhaupt dürfte die dissonante Klangwelt in den Tremoli der sordinierten Streicher- und der Bläserakkorde an die klassische Moderne vor hundert Jahren erinnern, und zwar als ganze, also nicht nur an die (konsequentere) Wiener Schule, sondern auch die neoklassische. Herauskommt, notabene,  keine tonale Musik. Die zeitweilige Gleichberechtigung aller Töne, das Fehlen eines Zieles, obwohl alle Ratten das Eintauchen im amorphen Gewusel in dem Wahn auf sich nehmen, einem lohnenden Ziel zuzustreben – all das paßt, wie ich meine, schon recht gut zueinander, um gleich zu Beginn das Absurde jenes vergeblichen "(trivial) pursuit of happiness" darzustellen, den zu karikieren zentrale Intention des Films ist. Angelockt, schon hier, werden die Menschen bzw. Ratten von den trügerischen Lockungen des Warenkonsums. Darum mische ich schon recht früh, um den Klang von Kaufhausgongs zu imitieren, (reihenunabhängige) Durdreiklänge der Celesta in das nervöse Geschehen. Es wird zu zeigen sein: Tonalität im allgemeinen und namentlich der Durdreiklang sind Inbegriff des kollektiven Strebens oder Rennens nach einem Ziel und Symbol von Verlockung und falscher Glücksverheißung. (Auch insofern ist die Wahl der Ratte als Fabel- bzw. Parabeltier sicher kein Zufall. Der Film taucht im Internet gelegentlich unter dem Titel "rat race" auf, und auch der Verweis auf den Rattenfänger von Hameln ist vielleicht nicht fehl am Platze). Umgekehrt symbolisiert das atonale Kreisen symmetrischer Zwölftonreihen die Vergeblichkeit dieses Strebens, wozu auch das Ende der Filmhandlung ein Beispiel liefern wird. Später. Ich muß an Enzensberger denken, der dem deutschen Wirtschaftswunder und Konsumismus der 1950er ankreidete, es gehe "aufwärts" im Land, aber nicht "vorwärts". Wenn ich den Mund noch voller nehmen darf: in den Kernaussagen, aber auch in den Darstellungsmitteln, die ich selber einsetze, um die Botschaft musikalisch zu transportieren, erinnert mich die ganze Sache immer wieder an die Musikphilosophe und- soziologie des Jahrhundertdenkers Adorno, sofern ich behaupten kann, sie verstanden zu haben.

Im ersten Drittel stellt der Film die Masse dar, dann konzentriert er sich mehr und mehr auf die durchweg scheiternden Versuche eines Individuums, das überall als „Happiness“ plakatierte Glück zu finden. Dabei wird, einhergehend mit dem Wechsel der Perspektive von der Masse zum Einzelnen, die Musik peu à peu traditioneller und sie wartet u.a. mit  vertrauten Mustern der Trivialmusik auf. Insgesamt erweisen sich dabei die ersten (oder aufgrund der Symmetrie – rückwärts gelesen – die letzten) vier Töne der Reihe als ein verläßlich wiederkehrendes Leitmotiv:

Abb. 7
Abb. 7

Aber ich werde zeigen: auch die Reihe als Ganzes ist in den tonalen Abschnitten präsent. Es gibt daneben jedoch auch einige melodische Einsprengsel, die weder mit der Reihe, noch mit dem viertönigen Leitmotiv zu tun haben, Allerweltsfloskeln, die jeder schon einmal irgendwo gehört und als nostalgische déja-entendus irgendwo im passiven Gedächtnis abgelegt hat.

Da wäre z.B. ein jazz pattern der Trompete, das sich collagenhaft und scheinbar ohne Bezug zum herrschenden Tempo und Rhythmus in den Straßenlärm mischt.

Abb. 8
Abb. 8

Einmal vor einem Kinoeingang hält der Protagonist kurz inne, als wolle er der wienerisch melancholischen Ländleranmutung der beiden Sologeigen lauschen, die ihn aus der Ferne oder lang verschütteten Erinnerungen anweht.

 

Abb. 9
Abb. 9

Um das akustische Kolorit von Fußgängerzonen und Einkaufsstraßen zu erzeugen, lasse ich auch mehrmals Flöten und Klarinetten eine sentimentale Allerweltsmelodie spielen, eine, die nach Leierkasten klingt. Wer diese relativ häufig in wechselnder musikalischer Umgebung hervortretende Schicht mit ihren charakteristischen, komplementären Triolenachteln in der Partitur lesend identifizieren möchte, findet sie zum erstenmal ab Takt 29 mit Auftakt in der Flöte und den Klarinetten. Der Hörer, wie gesagt, erkennt sie an den Anklängen an die rührseligen Küchenlied- und Drehorgelmoritaten. 

   

 

Fortsetzung folgt...

 

Kein Insiderwissen braucht es, um zu erkennen, daß meine Musik in diesem Stück harmonisch in einem überwiegend traditionellen tonalen Gewand daherkommt.

Manches – Anklänge an Wienerisches oder den frühen Jazz – mag und soll (!) Assoziationen an scheinbar Bekanntes wecken; einmal (T.79 ff.) mit dem Anfangsakkord aus Wagners Lohengrin (als würde im Rückspiegel des Sportwagens nicht eine Bierflasche aufleuchten, sondern der Heilige Gral)

breche ich auch mit dem Vorsatz, einmal komplett auf jegliches Zitat zu verzichten. Gut, ein einzelner A-Dur-Akkord ist noch kein Zitat, aber die Instrumentation macht's (an den hohen Flageoletts sollt ihr ihn, den Anfang von Wagners Lohengrin, erkennen... )

Die folgende Slideshow blättert selbsttätig durch die Partitur.

Man kann sie aber natürlich auch per Klick anhalten, zoomen

und vor- oder zurückblättern:

(Ab hier nach meinem Schlaganfall am 21. November: genau am 3.1.2022, ihr seht, ich hatte unverschämtes Glück.)

Weniger als im realen Kinofilm ist bei Comics das sog. "Mickey-Mousing" verpönt: Um Gottes Willen nicht die Stimmung, das den dramatischen Drive 1:1 wiederholen. Ich war, um ehrlich zu sein, ganz froh, daß es ein Comic ist, und sei es nur, um den Schritt eines Ratten-Individuums durch eine Boutique exakt nachzubilden, ohne dem Dirigenten einen Tempowechsel aufzunötigen. Danach ist dann allerdings das Gegenteil der Fall: Das Individuum lässt seine Schachteln fallen um, direkt wenn der Laden geöffnet wird, beim Black Friday dabei zu sein. Der Streit um die besonders heiß umkämpften Monitore, Handys etc. wird vom Regisseur so blutig und als brutales Gemetzel dargestellt, daß zum erstenmal die Ironie ins Spiel kommt. Die vier Töne des Leitmotivs bilden den Anfang und Wiedererkennungsmotiv eines schrecklich sentimentalen Wiener Walzers, der -- oh, Gott, nun also doch noch ein Zitat -- leider einer Millöcker-Stelle so ähnelt, dass ich das Motiv so abgewandelt habe, dass bis es kein wirkliches Zitat mehr ist. Es ist also, diesmal, kein Zitat, das ich mühsam ändere, damit es nicht wiedererkannt wird, sondern nur ein Beweis, dass manche Situationen zu ähnlichen Formulierungen führen. Meine Zwölftonreihe ist nun wirklich unabhängig von Millöckers Gasparone entstanden. Wenn dann ein Walzer herauskommt, der nach ihm klingt, dann kann ich nicht dafür. Ich wollte das süßliche Sentiment und die Nähe zu meiner Reihe unbedingt drinhaben. Als der Rausch vorbei ist, das Individuum einen Monitor, verletzt und vereinsamt ins Freie trägt, trägt, besonders die Posaune, wieder mit der zwölftönigen Grundgestalt der Situation Rechnung. 

Auch das Erspähen des roten Lamborghini, Alfa etc. lässt das Einzelwesen zwar schon wieder das Gekaufte weglegen, und wir sehen es kurz (bis zum nächsten Stau) durch die Gegend rasen. Dabei mixe ich ein relativ unscheinbares Ragtime-Motiv mit der Dodekaphonie. Die ist also stets dabei.