I. DEBUSSY und der Cakewalk

Mit der Kapitelüberschrift wird auf einer Tonspur eine Stelle aus Debussys „Golliwogg’s Cakewalk“ (der Übergang vom Mittelteil in die Reprise des Themas) eingefadet. Während in ein Photo mit der Bildunterschrift „Florence Upton  (1912) gezoomt wird, kommt mein Text:
[OFF]:
London, im Jahre 1895. Zu Weihnachten erscheint ein Kinderbuch der englischen Illustratorin Florence Kate Upton. Florence Uptons Bilder – dazu die limerickähnlichen Verse ihrer Mutter –  erzählen darin die Abenteuer zweier Holzgliederpuppen, sogenannter dutch dolls, mit Namen Sarah Jane und Peggy Deutchland. Aus einer amerikanischen Flagge schneidern sich die beiden Kleider. Und kaum sind sie ersten strapaziösen Abenteuern entronnen, da fährt ihnen ein neuerlicher Schreck in die Holzglieder. Peggy Deutchland schreit auf, und auch Sarah Jane wendet sich entsetzt ab. Wovor? Was hat sie so erschreckt? Es ist ein „horrid sight“, ein furchterregender Anblick: Vor ihnen steht unversehens „the blackest gnome“. Der Schreck ist aber im Nu verflogen. Der Gnom kommt freundlich näher. Die Angst vorm schwarzen Mann erweist sich gleich als unbegründet, und er stellt sich vor: Sein Name ist der „Golliwogg“. Das also ist die Geburtsstunde des Golliwogg, der Beginn einer langen Freundschaft – und einer Erfolgsgeschichte: Mutter und Tochter Upton veröffentlichen bis 1909 noch zwölf weitere Golliwogg-Bücher. Für Kinder gibt es den Golliwogg als Puppe, ein Parfumhersteller macht einen Flacon daraus, einer Marmeladenfirma dient er als Logo und als Werbeartikel. Es gibt ihn als Anstecknadel, als Teekanne oder Eierbecher.  Dann aber in jüngerer Zeit wurde es stiller um ihn – eine Frage der political correctness: Der Name, vielleicht nur ein kindlicher Reim auf ein amerikanisches Wort für die Kaulquappe („polliwog“), jedenfalls eine Wortschöpfung der Autorin und doch bis heute etymologisch umrätselt – wie auch immer: 
Der Name Golliwogg also gilt heute als rassistisch. So wurde Carol Thatcher, die Tochter ehemaligen britischen Premierministerin, bei der BBC gekündigt, nachdem sie den Tennisspieler Gaël Monfils einen Golliwogg genannt hatte. Daß der Golliwogg nicht in Vergessenheit gerät, verdanken wir vor allem dem nach ihm benannten Klavierstück von Debussy.
Wie ist das eigentlich: Wenn verfängliche Inhalte und Formulierungen Bestandteil einer Partitur sind, dann scheinen sie durch die Vertonung eine Art Immunität zu genießen.
Während in reinen Theaterstücken rüde gestrichen und manipuliert wird, haben Opern relativ wenig zu befürchten. Kaum bliebe sonst die Zauberflöte ungeschoren, die den Mohrensklaven
Monastatos als animalischen und hinterhältigen Fiesling vorführt, der die verbotene Begierde nach der Weißen Pamina mühsam unterdrücken muß, „weil“, so der Wortlaut seiner Arie, „ein Schwarzer häßlich ist“. Auch im Rosenkavalier würde der Kakao womöglich nicht mehr von einer Art Sarotti-Mohr serviert. Erst recht, und wohl auch zu Recht, bleibt Instrumentalmusik unbehelligt. Gut möglich, daß Debussy-Titel wie „Le petit nègre“ bzw. „The Little Negro“, ursprünglich gar „The Little Nigar“ und eben auch „Golliwogg’s Cakewalk“ die Welt in Verlegenheit brächten, wären es nicht unschuldige Überschriften ebenso unschuldiger Musikstücke.  Kehren wir zurück an den Anfang des 20. Jahrhunderts, als Florence Upton mit ihrer Mutter ein Kinderbuch nach dem anderen herausbrachte und damit Debussy zu „Golliwogg’s Cakewalk“ anregte:  Das Stück steht am Ende von  „Childrens‘ Corner“, einer sechsteiligen Suite, die er zwischen 1906 und 1908 komponierte und seiner kleinen Tochter Claude Emma, genannt Chou-chou widmete. Beide, Florence Upton wie Claude Debussy, waren, ohne für deren rassistische Klischees anfällig zu sein, inspiriert von den sogenannten minstrel shows. Das waren clowneske Variétédarbietungen, in denen schwarzgeschminkte Weiße das Stereotyp des dümmlichen, Banjo spielenden, naiven, immer fröhlichen Sklaven bedienten.
Durch die Shows wurde in Amerika, dann auch in Europa ein Tanz im Vierachteltakt, geschrieben als Zweivierteltakt, populär: Der Cakewalk.
Man erkennt ihn an einer rhythmischen Figur, bei der, ähnlich wie im (allerdings langsameren)Tango und der Habanera, die „Zwei“ des Vierertaktes  auf die „Eins und“ vorgezogen erscheint. Man rechnet diese Figur schon zu den Synkopen, also Akzentverschiebungen, obwohl die Betonungen des Vierermetrums, also die „Eins“ und die „Drei“ dabei buchstäblich intakt bleiben.
Im Unterschied zu den Synkopen im angeblich so nahverwandten Ragtime oder im frühen Jazz und den davon geprägten Modetänzen hatte diese Rhythmik noch nicht das Zeug zum Staunen der abendländischen Welt, in der Ähnliches gang und gäbe war.
Ja, mit etwas Geduld kann man in der abendländischen, etwa der deutschen Musiktradition sogar solche rhythmischen Phänomene aufstöbern, die recht eigentlich erst dem Jazz zu verdanken sind, zum Beispiel bei Beethoven oder schon bei Bach, d.h. in Epochen, in denen afroamerikanische Musik entweder noch gar nicht entstanden oder doch in Europa noch so unbekannt war wie im späten Mittelalter die Kartoffel.
Gut, es gab solche Phänomene eher selten. Immerhin, es gab sie. Doch davon später.
Zurück zu den Cakewalk-Adaptionen von Debussy:
Vier hat er über mehrere Jahre hinweg geschrieben. In den früheren, nämlich im „Little Negro“ und in „Golliwogg’s Cakewalk“ kann man das rhythmische Modell deutlicher erkennen als in den späteren, nämlich „Minstrels“ und „General Lavine eccentric“, wo die Synkope nur noch gleichsam durchschimmert. Das ist so verwunderlich nicht.
Gut, Debussy ist ein Musiker an der Schwelle zur Moderne, der sich mit wachem Sinn für Unverbrauchtes peu à peu vom tradierten Idiom entfernt, auch, um damit die akademischen Hüter altehrwürdiger Traditionen zu verstören.
Dabei ist auch Exotik als frischer Wind aus Übersee willkommen und bedeutend.
Manches bei Debussy geht auf Eindrücke von den Pariser Weltausstellungen zurück.
So wird zum Beispiel immer wieder auf das Erlebnis indonesischer Gamelan-Orchester hingewiesen, wenn von der Bedeutung der Ganztonleiter bei Debussy die Rede ist.
Überhaupt schien das Unorthodoxe beim ihm primär in der Harmonik zu bestehen, in der Wahl und der Verbindung der Akkorde und nicht so sehr im Rhythmischen, jedenfalls nicht in einer Vorliebe für Synkopen. Andrerseits: in Golliwogg’s Cakewalk spielt der Rhythmus eine wichtige Rolle.
Am Anfang und am Ende erinnert alles an die staksigen Verrenkungen von Minstreltänzern. Aber in der Mitte geschieht etwas Eigenartiges: Die Bewegungen werden deutlich langsamer, gedehnter, und es erklingt ein pathetisches Motiv von bleierner  Schwere, zu spielen „avec une grande émotion“. Hier wird unüberhörbar auf den Beginn von Wagners Tristan angespielt:
Mehrmals klingt das Zitat an. Jedesmal wird es mit a tempo hingeworfenen Staccati quittiert, die im Kontext wie Hohngelächter klingen.
Ein paarmal geht das so, bis dem Lamentieren keine Beachtung mehr geschenkt wird und die Bühne wieder dem Cakewalk gehört:
So wird Debussys Haßliebe gegenüber Wagner mit Händen greifbar, und so macht ein Komponist, indem er Musik über Musik schreibt, die Töne beredt, wie sonst nur Worte es sein können.
Das Witzige bei dem Zitat ist eigentlich, daß es nach den ersten drei Tönen, wo der Tristanakkord kommen müßte, anders weitergeht.
Wagner...
...Debussy
Witzig insofern, als ausgerechnet die Stelle, die ich als Gelächter bezeichnet habe, (wie übrigens auch das Intro) im wesentlichen aus den Tönen des Tristanakkordes besteht.
Was hat es eigentlich mit diesem Klang auf sich?
Wie kommt es, daß der Ausdruck über die Grenzte der Fachwelt hinaus zu einem geläufigen Begriff wurde?
Der Akkord als solcher gibt das kaum her, den gab es schon vor Wagner.
Und die Harmonielehren, die klassischen so gut wie die des Jazz, wissen den Klang einzuordnen, ohne den Begriff Tristanakkord dafür bemühen zu müssen.
Gut, der Beginn dieser Wagneroper (und nicht nur der Beginn) bezeugt, wie die europäische Musikgeschichte danach strebt, zu einer Gleichwertigkeit aller zwölf Töne vorzudringen und auch die Dissonanzen zu emanzipieren, sie also nicht mehr in Konsonanzen aufzulösen. 
Der Tristanakkord enthält zwei Dissonanzen. Durch die Fortschreitung der Oberstimme kommen zwei weitere hinzu.
Dann kommt statt einer Auflösung ein Akkord mit gleich vier neuen Dissonanzen.
Der verwandelt sich in den Dominantseptakkord, aber auch auf den folgt wiederum keine Auflösung, sondern – ein Pause.
Ohne die Bedeutung Wagners als Wegbereiter der Schönbergschen Atonalität schmälern zu wollen, darf man sie doch einmal vorsichtig relativieren:
Wenn es darum geht, die zwölf Töne der chromatischen Skala zu emanzipieren und Dissonanz auf Dissonanz zu häufen, so konnte er an Bestehendes anknüpfen. Andrerseits ist die Tristanharmonik ein wichtiger Meilenstein. Sie ist, was ihre tonartliche Verwandtschaft betrifft, von verstörender Mehrdeutigkeit.
Außerdem steigert sie die romantische Expressivität und Schwermut in einem solchen Maße zu einem buchstäblich todernsten Gestus, daß sie in Frankreich – ob zu Recht oder zu Unrecht –  als teutonisch auftrumpfend und anmaßend empfunden wurde.
Debussy reagiert darauf mit bewußt unprätentiöser und scheinbar unbekümmerter Musik,
die so tut, als hätte sie für diesen Gestus nur ein müdes Lächeln übrig.
Das bezeugen seine Cakewalks, allen voran natürlich der mit dem verhohnepipelten Tristanzitat.
Was das Moderne und Unorthodoxe in Debussys eigener Harmonik betrifft, lohnt ein Blick auf „General Lavine eccentric“. Auch dieser Cakewalk enthält ein Zitat, und zwar eines, das direkt aus dem Repertoire der minstrel shows stammt:
einem der sogenannten Plantagensongs von Stephen Foster mit dem Titel „The Camptown Races“. Und so klingt das bei Debussy:
Geradezu genüßlich wird eine der zentralen Regeln der Harmonielehre übertreten – das Parellelenverbot.
Und die einzelnen Akkorde werden so gewählt und kombiniert, daß sie keinen gemeinsamen Ton haben, also keine Verwandtschaft mit dem Nachbarn, so daß alle zwölf Töne auf engstem Raum zusammenkommen.
Das also bezeugen Debussys Stücke, auch seine Cakewalks:
Eine Harmonik, welche die Tonalitätskrise der Romantik weiter forciert, aber eine Schnoddrigkeit, die Wagnerschem Pathos eine Absage erteilt;
mit einem Wort – Antiromantik.